Religion ist Privatsache. Das gilt laut der Wissenschaftlerin Ghezal Sabir in der Landwirtschaft genauso wie in anderen Berufsfeldern auch. Keine leichte Aufgabe für ein Forschungsprojekt also, das den Zusammenhang zwischen religiöser Überzeugung und der biologischen Vielfalt untersucht. «Es war viel schwieriger als gedacht, Landwirtinnen und Landwirte für die Teilnahme an der Studie zu finden», so die Doktorandin im Departement für Agrar und Ernährungssysteme am FiBL. Für die Studie wurden die teilnehmenden Landwirtinnen und Landwirte anhand ihrer Angaben als katholisch, protestantisch, ökospirituell oder auch atheistisch eingeteilt und in Interviews zu ihrer Arbeitspraxis in Bezug auf die Biodiversität befragt. Werden Handlungen und Entscheidungen, die die Biodiversität betreffen, durch das eigene Wertesystem beeinflusst? Und ist das den Landwirtinnen und Landwirten auch bewusst? «Einige der Befragten konnten ihr persönliches Verhältnis zwischen Biodiversitätsförderung und ihrem Glauben beschreiben, andere gaben dem weniger Gewicht», so Ghezal Sabir.
Stärkt der Glaube die Biodiversität?
Derzeit werden die Interviews noch ausgewertet. Interessant sei laut Ghezal Sabir, dass alle Befragten unabhängig von ihrem Glaubenssystem dieselben sogenannten Ziel- oder Endwerte teilen – beispielsweise Werte wie Liebe, Schönheit oder auch Gerechtigkeit. Diese teils abstrakten Werte scheinen sich aber nicht immer direkt auf die Motivation von Landwirtinnen und Landwirten für eine stärkere Biodiversität auf ihrem Betrieb auszuwirken. Oft seien für das tatsächliche Handeln sogenannte instrumentelle Werte wichtig – also Werte, die zur Erreichung eines Ziels oder zur Befriedigung von Bedürfnissen beitragen – beispielsweise Anpassungsfähigkeit, Verantwortung oder Zusammenarbeit. So berichtet ein christlicher Biobauer davon, wie er gegenüber Unkräutern aus Überzeugung toleranter wurde und weniger energisch gegen sie vorging. Aus Furcht vor der Meinung seiner Berufskolleginnen und -kollegen errichtete er aber eine Art Sichtschutz um die Felder. Ein anderer Landwirt würde zwar gerne den Viehbestand verringern und den Betrieb extensivieren, kann das aber aufgrund seiner ökonomischen Abhängigkeit gegenüber seiner Bank nicht umsetzen. Ob der Glaube von Landwirtinnen und Landwirten als Hebel zur Förderung der Biodiversität auf dem eigenen Betrieb gestärkt werden kann, hängt vermutlich stark von den gesellschaftlichen und betrieblichen Rahmenbedingungen ab, sagt Ghezal Sabir. Letztlich gehe es wohl auch darum, die Handlungsspielräume für Landwirtinnen und Landwirte in Bezug auf die Biodiversitätsförderung zu erweitern. «Finanzieller oder politischer Druck, die Meinung anderer und weitere Faktoren haben grossen Einfluss darauf, wie man persönliche Überzeugungen umsetzen kann», ergänzt Ghezal Sabir.
Wertebasierte Landwirtschaft
Die Landwirtschaft ist weltweit eine der Hauptursachen für den Wandel der Landnutzung und den Verlust der biologischen Vielfalt – gleichzeitig erhalten Landwirtinnen und Landwirte mit ihrer Arbeit artenreiche Kulturlandschaften und Lebensräume. Welche Rolle spielen Werte bei der Entscheidungsfindung im landwirtschaftlichen Alltag und in Bezug auf die Biodiversität? Im Rahmen des EU-Forschungsprojekts Planet4B untersucht Ghezal Sabir, wie persönliche Werte das Umweltverhalten von Landwirtinnen und Landwirten und ihre Entscheidungen im Arbeitsalltag prägen. Ziel der Studie ist es, die Praktiken und Einstellungen der Landwirtinnen und Landwirte gegenüber der Natur und der biologischen Vielfalt aufzunehmen und zu ermitteln, welche religiösen, kulturellen oder gesellschaftlichen Faktoren für ihre Einstellungen und Praktiken entscheidend sind. Ghezal Sabir ist Muslimin und findet in der Auseinandersetzung mit den meist christlich geprägten Werten in der Schweiz und der Landwirtschaft zahlreiche Gemeinsamkeiten zum Islam. Es sei spannend zu sehen, wie sich sowohl die Bibel als auch der Koran sehr ähnlich zur Natur oder eben zur Schöpfung äussern, sagt sie.
Jeremias Lütold, FiBL
Dieser Artikel erschien am 06.12.2024 im Bioaktuell Magazin.
Weiterführende Informationen
FiBL Focus Podcast «Gott bewahre – was Spiritualität mit Biodiversität zu tun hat» (FiBL.org)
Projekt «PLANET4B» (FiBL Projektdatenbank)